Geplante SGB II-Änderungen: Mehr Druck, weniger Sicherheit
Die Bundesregierung plant einen tiefgreifenden Eingriff in das System des Bürgergelds. Der nun veröffentlichte Referentenentwurf zeigt: Das bislang geltende Prinzip des „Förderns und Forderns“ soll in seinem Kern umgekehrt werden. Künftig steht das Fordern im Vordergrund – begleitet von neuen, umfangreichen Pflichten, Sanktionen und rigiden Zumutbarkeitsregeln.
Ein Gesetz mit klarer Stoßrichtung
Der vorliegende Referentenentwurf für die Reform des Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) liegt als Vorentwurf vor und befindet sich derzeit noch in der ministeriellen Abstimmung. Danach folgen die Verbändeanhörung und das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren. Ziel ist ein Inkrafttreten im Juli 2026.
Schon heute wird deutlich: Das geplante „Grundsicherungsgeld“ zielt nicht primär auf Verbesserung sozialer Absicherung ab, sondern auf eine verstärkte Verpflichtung zur Erwerbstätigkeit – mit dem Effekt einer weiteren Öffnung des Arbeitsmarktes in den Niedriglohnbereich.
Dokumente und Entwürfe:
- Referentenentwurf: https://www.tacheles-sozialhilfe.de/aktuelles/archiv/vorentwurf-des-referentenentwurfs-zu-den-geplanten-sgb-ii-änderungen.html
- Konsolidierte Lesefassung der geplanten Änderungen: https://www.tacheles-sozialhilfe.de/aktuelles/archiv/zusammenfassung-der-geplanten-sgb-ii-aenderungen.html
- Erste Zusammenstellung der geplanten SGB II-Änderungen: https://www.mcadvo.de/meldungen/news/9325-vom-buergergeld-zum-grundsicherungsgeld-zu-den-geplanten-sgb-ii-aenderungen
Kernelemente des Entwurfs
1. Fingierte Nichterreichbarkeit
Wer Termine im Jobcenter versäumt, soll künftig gesetzlich als „nicht erreichbar“ gelten – mit der Konsequenz: vollständiger Wegfall aller Leistungen, einschließlich Regelleistung, Mietübernahme und Krankenversicherungsschutz. Eine nachträgliche Wiederherstellung des Anspruchs, wie § 67 SGB I sie vorsieht, ist nicht vorgesehen. Damit wird das Urteil des Bundesverfassungsgericht vom 5. November 2019 (1 BvL 7/16) faktisch unterlaufen.
Betroffen sind besonders Menschen, die krank, psychisch belastet oder vor Behördenkontakt zurückschreckend sind.
2. Zumutbarkeit ab dem ersten Geburtstag
Eltern sollen bereits ab dem ersten Geburtstag ihres Kindes zur Aufnahme von Arbeit, arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen oder Integrationskursen verpflichtet werden. In der Praxis bedeutet dies: Druck zur Frühbetreuung, auch dort, wo Betreuungsplätze fehlen. Das Recht auf Elternzeit wird so faktisch ausgespielt.
3. Vermögensgrenzen und Karenzzeiten
Die bestehenden Vermögensfreibeträge sollen abgesenkt und die bisherige Karenzzeit – in der Rücklagen unangetastet bleiben konnten – abgeschafft werden. Das heißt: Das Leistungsrecht wird wieder stärker auf das frühere Modell der Bedürftigkeitsprüfung ausgerichtet.
4. Kooperationsplan mit Zwangscharakter
Wer sich weigert, sich auf einen Kooperationsplan mit dem Jobcenter einzulassen, erhält diesen künftig per Verwaltungsakt. Jeder Verstoß gegen diesen Plan führt unmittelbar zu Leistungskürzungen oder Sanktionen. Kooperation wird somit nicht mehr gemeinsam gestaltet, sondern von oben auferlegt.
5. Unterkunftskosten (KdU)
Die bisherige Übergangsregelung, nach der in der Karenzzeit die tatsächlichen Mietkosten übernommen wurden, entfällt. Künftig gilt eine Deckelung auf das 1,5-Fache der örtlichen Mietobergrenze – auch während der Karenzzeit. Bei nicht erforderlichen Umzügen innerhalb desselben Vergleichsgebiets gilt: Maximal die vorherige Miete wird anerkannt (§ 22 Abs. 4 Satz 4 SGB II-Entwurf). Damit entsteht ein deutlich erhöhter Druck auf Betroffene.
6. Pflichten für Vermieter*innen
Vermieter*innen sollen künftig Auskunfts-, Mitwirkungs- und Nachweispflichten gegenüber dem Jobcenter erfüllen. Wer diesen nicht nachkommt, begeht eine Ordnungswidrigkeit mit Bußgeld bis zu 5.000 Euro (§ 63 Abs. 2 SGB II-Entwurf). Diese Regelung könnte die Bereitschaft zur Vermietung an Leistungsbeziehende weiter verringern und den Zugang zum Wohnungsmarkt erschweren.
7. Verschärfte Sanktionen
Das Sanktionssystem wird massiv verschärft:
- Nach zwei versäumten Meldeterminen: 30 % Kürzung der Regelleistung
- Nach drei Meldeterminen: komplette Einstellung der Leistungen
- Erscheint die Person auch im Folgemonat nicht: 100 % Sanktion inklusive Mietkosten (Fiktion der Nichterreichbarkeit)
Bei Pflichtverletzungen (z. B. Ablehnung von Arbeit, fehlende Eigenbemühungen, Nichtteilnahme an Maßnahmen, Herbeiführung einer Sperrzeit nach SGB III) ist eine Kürzung von 30 % der Regelleistung für drei Monate vorgesehen. Bei Arbeitsverweigerung droht die sofortige Streichung aller Leistungen.
Bewertung
Die geplante Reform stellt einen klaren Rückschritt gegenüber den Grundprinzipien des Bürgergelds dar. Statt Teilhabeorientierung rückt eine Politik der Disziplinierung in den Vordergrund. Wissenschaftliche Befunde zeigen überdeutlich: Qualifizierung, Beratung und individuelle Unterstützung sind die wirksamsten Wege zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt – nicht Sanktionen und Zwang.
Die Reform markiert somit nicht nur eine inhaltliche, sondern eine normative Kehrtwende im Leistungsrecht: Weg von Unterstützung, hin zu Kontrolle und Druck. Dies läuft Gefahr, den Sozialstaat nicht zu stärken, sondern auszuhöhlen.
Fazit
Mit dem geplanten „Grundsicherungsgeld“ verabschiedet sich die Bundesregierung vom Anspruch, soziale Sicherung als Teilhabeinstrument zu verstehen. Wird der Entwurf in dieser Form umgesetzt, droht eine massive Verschärfung für Leistungsbeziehende und eine weitere Schwächung der sozialen Sicherungssysteme.
Es bleibt zu hoffen, dass Parteien, Verbände und zivilgesellschaftliche Initiativen in der anstehenden Verbändeanhörung entschieden Widerspruch einlegen – bevor das Bürgergeld endgültig zum Druckmittel wird.
Quellen und Lesefassungen:
- Referentenentwurf: https://www.tacheles-sozialhilfe.de/aktuelles/archiv/vorentwurf-des-referentenentwurfs-zu-den-geplanten-sgb-ii-änderungen.html
- Konsolidierte Lesefassung der geplanten Änderungen: https://www.tacheles-sozialhilfe.de/aktuelles/archiv/zusammenfassung-der-geplanten-sgb-ii-aenderungen.html
- Zusammenfassung der geplanten SGB II-Änderungen (Thomé / Tacheles e. V.): https://www.mcadvo.de/meldungen/news/9325-vom-buergergeld-zum-grundsicherungsgeld-zu-den-geplanten-sgb-ii-aenderungen

